AG Kunstproduktion und Kunsttheorie

im Zeichen Globaler Migration

im Ulmer Verein für Kunst- und Kulturwissenschaften e.V.

Kaum eine andere gesellschaftliche Bewegung hatte ähnlich umfassende Folgen wie die Migration, die von der klassischen Soziologie als dauerhafter Wechsel des Wohnortes von Menschen im geographischen und/oder sozialen Raum definiert wird. Dabei wandern nicht nur Menschen, sondern auch Gegenstände, Einstellungen und Ideen, sodass von komplexen Transferbewegungen gesprochen werden kann. Anziehungspunkt und „Ankunftsorte“ (Doug Saunders: Arrival city, München 2011) für Arbeitsmigrant-/Innen sind vor allem Großstädte, deren Struktur und Erscheinung Einwanderung spiegelt und abbildet. Migration modelliert damit nicht nur Gesellschaften sondern auch Städte – oder: Stadt ist Migration (Erol Yıldız: Migration in der metropolitanen Gesellschaft, Münster 2004). Neue Großstädte entstehen und lösen die alten Multimetropolen wie London – die größte Stadt der Welt im 19. Jahrhundert – ab. Den Austausch zwischen Metropolen und ihren Bewohner-/Innen (Inter-City-geographies) beschreibt Sassen als „flow of professionals, tourists, artists and migrants among specific groups of cities“ (Saskia Sassen: Why Cities Matter, in: Cities. Architecture and Society, Ausst.-Kat. 10. Architecture Biennale Venice, Venedig 2006: 27).

 

Migration als Binnenwanderung und als Grenzen von Nationalstaaten perforierender internationaler Prozess nimmt seit den 1980er Jahren weltweit zu und ist keine Ausnahmeerscheinung sondern die Norm: „In other words, movement, once we notice its pervasiveness, is not an exceptional occurance in an otherwise stable world, but a normal, generalized process in the world that cannot be grasped in terms of any given notion of stability.“ (Mieke Bal/Miguel Á. Hernández-Navarro: Art and Visibility in Migratory Culture. Conflict, Resistance, and Agency, Amsterdam/New York 2011: 10) Migration ist dabei eng verknüpft mit der Globalisierung, einem wirtschaftlichen, weltumspannenden Phänomen, das etymologisch auf die frühen 1960er Jahre datiert und seit den 1980er Jahren als Begriff prosperiert (John Naisbitt: Megatrends. Ten new directions transforming our lives, New York 1982; Theodore Levitt: The Globalization of Markets, in: Harvard Business Review, Mai 1983), jedoch bereits viel weiter zurückweist. Die zunehmende weltweite Verdichtung und Verflechtung ökonomischer Systeme durch die Liberalisierung des Welthandels sowie die Vernetzung durch elektronische Kommunikationssysteme und innovative Transporttechnologien stehen in Wechselwirkung mit internationalen Aus- und Einwanderungsbewegungen. Dabei überlagern sich die Routen von hochqualifizierten Migrant-/innen, die als Angestellte oder Führungskräfte multinational agierender Unternehmen ihre Heimaten wechseln, mit jenen der temporären Arbeitsmigrant-/Innen, der geringqualifizierten Langzeitmigrant-/Innen, der irregulären Migrant-/Innen und der Flüchtlinge. Zusätzlich berühren sich die Reisewege von Tourist-/Innen und Migrant-/Innen, beispielsweise an neuralgischen Ankunftsorten von Flüchtlingsbewegungen wie auf den Inseln Teneriffa oder Lampedusa (Tom Holert/Mark Terkessidis Fliehkraft: Gesellschaft in Bewegung – von Migranten und Touristen, Köln 2006).

 

Migrationsforschung wurde bislang schwerpunktmäßig in den Sozial-, Politik- und Wirtschaftswissenschaften betrieben. Dabei standen vor allem die ökonomischen Faktoren als Ursache für Migrationsbewegungen sowie deren soziale Auswirkungen im Mittelpunkt der Untersuchungen. Erst durch die an politischen und sozialen Fragestellungen interessierten angelsächsischen Cultural Studies begannen sich auch die Geistes- und Kulturwissenschaften mit den kulturellen Implikationen von Migrationsphänomen näher auseinanderzusetzen. Dieser Diskurs wurde vorwiegend in Spezialisierungsgebieten der Cultural Studies geführt wie etwa den postkolonialen Transatlantikstudien, den Diasporastudien, den Genderstudien (Frauen und Migration), und den Transnationalen Studien.

Eigenständige Forschungen zu den Entstehungs-, Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Migrationskunst konnten sich in der deutschsprachigen Wissenschaftslandschaft vor allem in den späten 1980er Jahren im Bereich der Literaturwissenschaft, und hier insbesondere auf dem Gebiet der interkulturellen Germanistik und der Philologie des Deutschen als Fremdsprache etablieren; dennoch blieb, als Reflex auf die damalige national orientierte Politik, die Deutschland den offiziellen Status eines Einwanderungslandes nicht zuerkennen wollte, die Anwendung der Kategorie Migrantenliteratur auf „Gastarbeiterliteratur“ und „Ausländerliteratur“ beschränkt, wodurch das Untersuchungsfeld in den Minderheitendiskurs abgeschoben und erheblich marginalisiert wurde.

 

Erst im Zuge der seit Mitte der 1990er Jahre rege geführten Globalisierungsdebatte wurde der Migrationsdiskurs stark aufgewertet. Durch die erhöhte internationale Mobilität war das Thema der Migration in der Mitte der Gesellschaft angekommen und rückte damit neu auch ins Zentrum der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Die von den Strömen des globalen Finanz- und Humankapitals geleiteten Migrationsprozesse ließen sich mit den klassischen
Migrationstheorien nur noch unbefriedigend erklären (Sonja Haug: Klassische und Neuere Theorien der

Migration, Arbeitspapiere des Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung, Mannheim 2000). Migration hatte sich von einem tendenziell temporären unidirektionalen Aus- und Einwanderungsphänomen zu einer multidirektionalen Dauermobilitätsbewegung entwickelt, einem ökonomischen, politischen und kulturellen Nomadentum, das einen transnationalen, multilokalen Netzwerk-Ansatz erforderlich machte. (Brigitte Bönisch-Brednich, Catherin Trundle (Hg.): Local Lives. Migration and the Politics of Place, Burlington 2010; Nicola Hilti: Lebenswelten multilokal Wohnender. Eine Betrachtung des Spannungsfeldes von Bewegung und Verankerung, Berlin/New York 2012).

 

Obgleich globale Migration als zentrales gesellschaftsveränderndes Phänomen unserer Zeit in den vergangenen zwanzig Jahren verstärkt von der zeitgenössischen Kunst beachtet und reflektiert wurde, fand in der deutschen und internationalen Kunstwissenschaft bislang kaum eine systematische, an Fragen der Transnationalisierung und Globalisierung orientierte Auseinandersetzung mit Migration als Kategorie und Movens künstlerischer Produktion statt. Allein in den medien- und kulturwissenschaftlich orientierten Bildwissenschaften hat sich ansatzweise ein theoretisches wie methodisches Forschungsinteresse an inter- und transkulturellen Bildwanderbewegungen (Migrating Images. Producing, Reading, Transporting, Translating, hg. von Petra Stegmann und Peter C. Seel, Berlin 2004) sowie Erscheinungsformen einer visuellen Kultur der Migration (Christine Bischoff, Francesca Falk, Sylvia Kafehsy (Hg.): Images of Illegalized Immigration. Towards a Critical Iconology of Politics, Bielefeld 2010) formiert.

 

Die sich nun unter dem Dach des Ulmer Vereins für Kunst- und Kulturwissenschaften etablierende Arbeitsgemeinschaft fragt, welche Bedeutung das Zusammenwirken von Migration und Globalisierung als bedeutendsten Phänomenen der gesellschaftlichen Transformation im 20. und 21. Jahrhundert für die kunstwissenschaftliche Forschung, die kuratorische Theorie und Praxis sowie die künstlerische Produktion hat. Wie schrieben und schreiben sich globale Wanderungen in künstlerischen Arbeiten ein? Wie bedeutsam waren künstlerischer Austausch, das Wandern von Ideen und Konzepten schon vor der als Dekade der Globalisierung ausgerufenen Zeit? Welche Kontakte zwischen Künstlern und Kuratoren existierten in Zeiten, in denen materielle wie politische Mauern die Kommunikation zwischen West- und Osteuropa erheblich erschwerten? Was lässt sich zum globalen Kunstmarkt vor der Folie der Arbeitsmigration sagen? Welche Bedeutung haben Stadt- und-Land-Differenzen, wie modelliert Migration den öffentlich sichtbaren und unsichtbaren Raum der Großstädte? Wie lassen sich diese kulturellen Hinterlassenschaften und Schichtungen entziffern oder bewahren?

 

Die aktuelle transnationale Entwicklung in der Kunstproduktion und auf dem Kunstmarkt zeigt, dass das Fach Kunstgeschichte angesichts der vielschichtigen historischen wie gegenwärtigen globalen Migrationsprozesse vor großen Herausforderungen steht, die eigenen Parameter und Methoden neu zu reflektieren. Welche theoretischen Konzepte entsprechen den prozessualen, performativen, transnationalen und transkulturellen Wanderungsbewegungen und ihren künstlerischen Reflektionen? Wie lässt sich eine Kunstgeschichte schreiben, die Instabilität, Austausch und kulturelle Veränderbarkeit fokussiert und nicht in nationalen Parametern denkt?

 

Initiatorinnen der AG waren Prof. Dr. Burcu Dogramaci (Ludwig-Maximilians-Universität München) und Prof. Dr. Birgit Mersmann (Jacobs University Bremen). Das erste Arbeitstreffen fand am Freitag, den 22. November 2013 in München statt.

 

Sprecherinnen der AG waren seitdem:
2015-16_ Prof. Dr. Burcu Dogramaci (LMU München), Prof. Dr. Alexandra Karentzos (TU Darmstadt), Prof. Dr. Birit Mersmann (Jacobs University Bremen);

2016-18_ Dr. Cathrine Bublatzky, Prof. Dr. Burcu Dogramaci (LMU München), Prof. Dr. Kerstin Pinther;

2018-20_ Prof. Dr. Gabriele Genge (Universität Essen),
Dr. Angela Stercken (Universität Essen) und apl. Prof. Dr. Melanie Ulz (Universität Osnabrück);

2020-22_ Dr. Alma-Elisa Kittner (Justus-Liebig-Universität Gießen), Dipl. des. Kerstin Meincke (Universität Duisburg-Essen), Dr. Miriam Oesterreich (TU Darmstadt);

2022-24_ Dr. Buket Altinoba (ZI München), Prof. Dr. Alexandra Karentzos (TU Darmstadt), Prof. Dr. Elke Gaugele (Akademie der Bildenden Künste, Wien).

 

Aktuelle Sprecherinnen der AG sind:
Dr. Franziska Koch (Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf), Prof. Susanne Weirich (Universität Duisburg-Essen).

 

Wir hoffen auf eine rege Beteiligung von Mitgliedern des Ulmer Vereins und universitären Einichtungen und bitten bei Interesse an einer Mitarbeit in der AG um Kontaktaufnahme.